Viele
Buddhisten glauben, daß das alte Tibet vor den chinesischen
Unterdrückungsmaßnahmen 1959 ein spirituell ausgerichtetes Königreich
war, das frei war von egoistischer Lebensführung, frei war von
Materialismus sowie vom Laster der Korruption, das in westlichen
Gesellschaften verbreitet ist. Westliche Medien, Reiseberichte, Novellen
und Hollywoodfilme zeigten der Öffentlichkeit die tibetische Theokratie
als ein veritables Shangri-La. Der Dalai Lama erklärte, „dass der
fortwährende Einfluß des Buddhismus“ in Tibet, „inmitten den Weiten
einer unberührten Natur eine Gesellschaft schuf, die sich dem Frieden
und der Harmonie verschrieb. Wir genossen Frieden und Zufriedenheit“
Die Beschäftigung mit Tibets Geschichte offenbart uns ein etwas anderes
Bild. "Religiöse Konflikte waren an der Tagesordnung im alten Tibet"
schreibt ein westlicher Buddhist. Die Geschichte glaubt das Shangri-La
Image der tibetischen Lamas und ihrer Anhänger, die in wechselseitiger
Toleranz gewaltfrei zusammenleben. In Wirklichkeit war die Situation
völlig anders. Das alte Tibet ähnelte sehr viel mehr dem Europa der
Gegenreformation mit ihren Religionskriegen.
Im 13. Jahrhundert setze Kaiser Kublai Khan den ersten Großlama ein,
der allen anderen Lamas vorgesetzt war wie der Papst den Bischöfen.
Jahrhunderte später entsandte der Kaiser von China eine Armee nach
Tibet, um den Großlama, einen 25-jährigen ehrgeizigen Mann, zu
unterstützen, der sich dann den Titel Dalai (Ocean) Lama gab, Herrscher
von ganz Tibet. Hier besteht eine historische Ironie: der erste Dalai
Lama wurde durch die chinesische Armee an die Macht gebracht.
Seine
beiden voran gegangenen „Inkarnationen“ wurden dann im Nachhinein als
seine Vorgänger ausgegeben, sodaß auf diese Weise der 1. Dalai Lama zum
3. wurde. Dieser 1. oder 3. Dalai Lama belagerte Klöster, die nicht zu
seiner Sekte gehörten und man sagt ihm nach, daß er buddhistische
Schriften verbrennen ließ, die nicht die Meinung seiner Seite
wiedergaben. Der Dalai Lama, der ihm nachfolgte, führte ein lustbetontes
Leben, erfreute sich an Mätressen, Gelagen mit Freunden und verhielt
sich auf andere Weise nicht so wie es einer inkarnierten Gottheit
zustand. Wegen solcher Übertretungen wurde er von Priestern ermordet.
Innerhalb von 170 Jahren wurden fünf Dalai Lamas von ihren hohen
Priestern oder anderen Höflingen trotz ihres Status einer göttlichen
Inkarnation ermordet.
Seit hunderten von Jahren sind konkurrierende tibetische buddhistische
Sekten in gewalttätige Auseinandersetzungen engagiert mit unzähligen
Exekutionen. Im Jahre 1660 gab es eine Rebellion gegen den 5. Dalai Lama
in der Tsang-Provinz, der Hochburg der rivalisierenden Kagyusekte
mit ihrem Karmapa genannten Oberlama. Der 5. Dalai Lama rief nach harter
Vergeltung gegen die Rebellen und beauftragte die mongolische Armee, die
männlichen und weiblichen Linien und ihre Nachkommen auszuradieren „wie
man Eier gegen Felsen wirft….kurz, jede Spur von ihnen, sogar ihre Namen
zu vernichten“
1792 wurden viele Kagyuklöster konfisziert und ihre Mönche gewaltsam
gezwungen, zur Gelugsekte zu konvertieren (die Sekte des Dalai Lamas).
Die Gelugschule, bekannt auch als die „Gelbhüte“, legte wenig Toleranz
oder Bereitschaft an den Tag, ihre Lehren mit anderen buddhistischen
Sekten zu vermischen. In den Worten eines ihrer traditionellen Gebete:
„Lob dir, gewaltsamer Gott der Lehren des gelben Hutes, der du zu Staub
machst große Herren, Beamte und gemeine Menschen, die die Gelug-Doktrine
beschmutzen und verändern“ Ein Tagebuch eines tibetischen Generals
aus dem 18. Jahrhundert belegt Sektenkämpfe unter Buddhisten, die so
brutal und blutig verliefen wie religiöse Konflikte nur sein
können. Diese grausige Geschichte wird von den heutigen Anhängern des
tibetischen Buddhismus im Westen ausgeblendet.
Religionen hatten nicht nur eine enge Beziehung zu Gewalttätigkeiten
sondern auch zu ökonomischer Ausbeutung. Tatsächlich ist es oft die
ökonomische Ausbeutung, die die Gewalttätigkeiten bedingt. So verhielt
es sich bei der tibetischen Theokratie. Bis 1959, als der Dalai Lama
immer noch Tibet vorstand, befand sich fast das ganze bewirtschaftbare
Land in Großgrundbesitz, auf dem Leibeigene arbeiteten. Diese Güter
standen im Besitz von zwei Gruppen: reiche säkulare Fürsten und reiche
theokratische Lamas. Sogar ein Autor, der mit der alten Ordnung
sympathisiert muß zugeben, daß „ein großer Teil des Grundbesitzes den
Klöstern gehörte und die meisten großen Reichtum anhäuften“. Ein großer
Teil des Reichtums wurde angehäuft „durch aktive Teilhabe an Handel,
Wirtschaft und Geldverleih“.
Das Drepungkloster war einer der größten Landbesitzer der Welt mit
seinen 185 Herrensitzen, 25.000 Leibeigenen, 300 großen Weidegebieten und
16.000 Viehtreibern. Der Reichtum der Klöster konzentrierte sich in den
Händen einer kleinen Zahl hochrangiger Lamas. Die meisten gewöhnlichen
Mönche lebten bescheiden und hatten keinen direkten Zugang zu größerem
Wohlstand. Der Dalai Lama selbst lebte luxuriös im Potala-Palast mit
seinen 1000 Zimmern auf 14 Etagen.“
Säkularen
Führern ging es auch gut. Ein Beispiel ist der Chef der tibetischen
Armee, ein Mitglied des Kabinetts des Dalai Lama, dem 4000
Quadratkilometer gehörten mit 3500 Leibeigenen. Das alte Tibet wurde
von einigen westlichen Bewunderern falsch charakterisiert als „eine
Nation, die keine Polizeikräfte benötigte, weil das Volk freiwillig die
Gesetze der Lamas befolgte“
Tatsächlich hatte Tibet eine professionelle Armee. Diese war relativ
klein und fungierte als eine Gendarmerie für die Landlords, um Ordnung
zu bewahren, ihr Eigentum zu beschützen und Jagd zu machen auf
entlaufene Leibeigene.
Tibetische Jungen wurden regulär ihren Eltern auf dem Lande genommen, in
die Klöster gebracht und dort zu Mönchen ausgebildet. Einmal dort waren
sie für ihr Leben gebunden. Tashi-Tsering, ein Mönch, berichtet, daß es
normal war, daß Bauernkinder in den Klöstern sexuell mißbraucht wurden.
Er selbst war ein Opfer wiederholter Vergewaltigungen beginnend im Alter
von 9 Jahren. Die klösterlichen Domänen dienten auch zur Aushebung
von Kindern zur lebenslangen Dienerschaft, Tänzern und Soldaten.
Im alten Tibet gab es eine kleine Anzahl von Bauern, die eine Art freien
Bauernstand darstellten sowie vielleicht 10.000 Menschen, die die
„Mittelklasse“ ausmachten, Familien von Kaufleuten, Inhaber kleiner
Geschäfte und kleine Händler. Tausende andere waren Bettler. Es gab auch
Sklaven, die normalerweise als Hausdiener gehalten wurden und keinerlei
Lohn erhielten. Ihre Kinder wurden ebenfalls in die Sklaverei geboren.
Die Mehrzahl der ländlichen Bevölkerung waren Leibeigene. Sie wurden
etwas besser behandelt als Sklaven, es gab für sie keinerlei
Schulbildung und medizinische Versorgung. Sie hatten die lebenslange
Verpflichtung auf dem Land des Fürsten oder Klosters ohne Bezahlung zu
arbeiten, die Häuser der Herren zu reparieren, ihre Waren zu
transportieren und Feuerholz für sie zu sammeln. Sie mußten auch Tiere
hüten und bei Bedarf transportieren. Ihre Herren wiesen sie an, was
angebaut werden sollte und welche Tiere gezüchtet werden sollten. Sie
durften nicht ohne Zustimmung ihres Herrn oder Lamas heiraten. Sie
konnten ohne weiteres von ihren Familien getrennt werden, wenn ihr
Besitzer sie zur Arbeit zu einem entfernten Ort schickte.
Wie in einem System freier Arbeit und im Gegensatz zur Sklaverei hatten
die Herren keinerlei Verantwortung für ihre Leibeigenen und kein
direktes Interesse daran, daß sie oder er überlebten als ein teurer Teil
ihres Besitztums. Die Leibeigenen hatten sich selbst zu versorgen. Aber
wie in der Sklaverei waren sie an ihren Herrn gebunden, um ihm einen
fixen und permanenten Fluß von Arbeitskraft zu garantieren. Die
Leibeigenen konnten sich nicht organisieren oder streiken, besaßen keine
Freizügigkeit wie in einem Marktzusammenhang. Die Herren genossen die
Vorteile beider Systeme.
Eine 22-jährige Frau, eine entkommene Leibeigene, berichtet: „Nette
Leibeigenenmädchen werden vom Herrn gerne als Hausbedienstete genommen
und nach Belieben benutzt“. Sie „wurden wie Sklaven gehalten ohne
Rechte“ Leibeigene benötigten eine Erlaubnis, wenn sie irgendwohin gehen
wollten. Die Landbesitzer hatten das Recht diejenigen einzufangen, die
versuchten zu fliehen. Ein 24-jähriger Entkommener begrüßte die
chinesische Intervention als „Befreiung“. Er stellte fest, daß er unter
dem System der Leibeigenschaft ständigen Qualen, Hunger und Kälte
ausgesetzt gewesen sei. Nach seinem dritten erfolglosen Fluchtversuch
sei er gnadenlos von den Männern des Landlords geschlagen worden bis
Blut aus Nase und Mund geflossen sei. Dann gossen sie Alkohol und
Natronlauge in seine Wunden, um seine Schmerzen zu vergrößern, sagte er.
Den Leibeigenen wurden Steuern abverlangt für eine Heirat, für
jedes Kind und für jeden Todesfall in der Familie. Steuern waren fällig
für jedes religiöses Fest und für öffentliches Tanzen und Trommeln,
dafür ins Gefängnis zu kommen und dafür aus diesem entlassen zu werden.
Wer keine Arbeit fand wurde für Arbeitslosigkeit besteuert und für eine
Fahrt in ein anderes Dorf auf der Suche nach Arbeit wurde eine
Wegesteuer verlangt. Wenn jemand eine Steuer nicht zahlen konnte lieh
das Kloster ihm das Geld zum Zinssatz von 20 bis 50%. Manche Schulden
wurden vom Vater an den Sohn und weiter an den Enkel vererbt. Schuldner,
die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnten riskierten, in die
Sklaverei verkauft zu werden.
Die religiösen Unterweisungen der Theokratie waren ein Eckpfeiler ihrer
Klassenherrschaft. Den Armen und Leidgequälten wurde gesagt, daß sie an
ihren Problemen selber Schuld seien wegen ihrer Verfehlungen in
vergangenen Leben. Sie hatten das Elend ihres gegenwärtigen Lebens als
karmische Sühne zu akzeptieren in der Erwartung einer Verbesserung ihres
Loses in einem nächsten Leben. Die Reichen und Mächtigen sahen ihr gutes
Schicksal als Belohnung an und als unbezweifelbaren Beweis für ihr
tugendhaftes vergangenes und gegenwärtiges Leben.
Die
tibetischen Leibeigenen waren mehr als abergläubische Opfer, waren blind
gegenüber ihrer eigenen Unterdrückung. Wie wir gesehen haben sind einige
geflohen, andere rebellierten offen und erlitten manchmal die
schrecklichen Konsequenzen. Im feudalen Tibet waren Folter und
Verstümmelung - einschließlich dem Ausstechen der Augen, dem
Abschneiden der Zunge, das Durchschneiden der Achillessehne und
Amputation von Gliedmaßen - beliebte Strafmaßnahmen gegenüber Dieben
und entlaufenen Leibeigenen. Auf einer Reise durch Tibet im Jahre 1960
interviewten Stuart und Roma Gelder einen ehemaligen Leibeigenen, Tsereh
Wang Tuei, der zwei Schafe gestohlen hatte, die einem Kloster gehörten.
Zur Strafe waren ihm beide Augen ausgestochen worden und seine Hände
verstümmelt worden. Er führt aus, daß er nicht mehr Buddhist sei: „Wenn
ein heiliger Lama angeordnet hat, mich zu erblinden dachte ich, daß
diese Religion nichts Gutes an sich hat.“ Da es gegen die buddhistische
Lehre war, menschliches Leben zu zerstören, wurden Delinquenten fest
angebunden und dann „Gott überlassen“ um in der kalten Nacht zu
erfrieren. „Die Parallelen zwischen Tibet und dem mittelalterlichen
Europa sind frappierend“, stellt Tom Grünfeld in seinem Buch über Tibet
fest.
Im Jahre 1959 besuchte Anna Louise Strong eine Ausstellung über
Folterwerkzeuge, die von tibetischen Landlords benutzt wurden. Man sah
dort Handschellen aller Größen inklusive von kleinen für Kinder, ferner
Instrumente zum Ausstechen der Augen, solche zum Brechen der Hände und
zum Zerschneiden der Achillessehnen. Es gab Brandzeichen, Peitschen und
spezielle Geräte zum Aufschlitzen des Bauches. Die Ausstellung
präsentierte Fotographien und Zeugenaussagen von Opfern, die geblendet
oder verstümmelt worden waren wegen Diebstahl. Da gab es den Schäfer,
dessen Herr ihm eine Entschädigung schuldete in Yuan und Weizen, sich
aber weigerte zu zahlen. Als er sich darauf eine Kuh seines Herrn nahm
wurden ihm die Hände abgehackt. Einem anderen Hirten wurden die Hände
gebrochen, weil er sich darüber beschwert hatte, daß sein Herr ihm seine
Frau weggenommen hatte. Man sah Bilder von kommunistischen Aktivisten
mit abgeschnittenen Nasen und Oberlippen und von einer Frau, der nach
ihrer Vergewaltigung die Nase abgeschnitten wurde.
Frühere Besucher Tibets beschrieben den theokratischen Despotismus. 1895
schrieb der Engländer Dr. A.L. Waddell, daß die Bevölkerung der
„intoleranten Tyrannei der Mönche“ ausgesetzt sei, die mit dem von ihnen
erzeugten dämonischen Aberglauben die Menschen terrorisieren. 1004
bezeichnete Perceval Landon die Herrschaft des Dalai Lama als „eine
Maschine der Unterdrückung“. Zu dieser Zeit beschrieb ein anderer
englischer Reisender, Hauptmann W.F.T. O´Connor, daß „die großen
Landbesitzer und die Priester….jeder in seinem eigenen
Herrschaftsbereich ein despotisches Regime ausübten, gegen das es keine
Gegenwehr gibt“, während die Menschen „unterdrückt werden von einer zu
monströser Größe angewachsenen Mönchs– und Priesterkaste“. Die
tibetischen Herrscher erfanden entwürdigende Legenden und ein Klima des
Aberglaubens“ unter den einfachen Leuten. 1937 schrieb ein weiterer
Besucher, Spencer Chapman: „Der lamaistische Mönch verbringt seine Zeit
nicht damit, den Menschen zu dienen oder sie zu unterrichten…..Der
Bettler am Straßenrand bedeutet dem Mönch nichts. Bildung ist das
eifersüchtig bewahrte Vorrecht der Klöster und wird dazu benutzt, ihren
Einfluß und ihren Wohlstand auszuweiten und zu mehren.“
So sehr wir es uns auch anders wünschen mögen, das feudale theokratische
Tibet war weit davon entfernt ein romantisches Shangri La zu sein, als
das es von den westlichen Adepten des Buddhismus enthusiastisch
hingestellt wird.
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